Erlebnisbericht von Ueli Wildberger
MenschenStrom 2012
Atomausstieg – jetzt erst recht!
Zug um Zug strömten am Sonntagmorgen am 11.März 2012 die bunten Menschenscharen mit ihren gelben Atom-nein-danke-Fahnen vom Geleise herab und füllten den Platz. Freudig wurde die bunte, friedliche Menge vom Menschenstrom-Ansager begrüsst. Dawischen gabs AKW-Songs von Hanna Götte und Franz Morissey und fetzige Musik von Chèvre cho, unterbrochen von Kurzansagen - wie die, dass Deutschland schon 20% seines Energiebedarfs mit Erneuerbaren deckt; 100 Gemeinden und Bezirke sogar schon 100%!
Drei Tage vorher hatte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden von 113 Anwohnern Recht gegeben und dem AKW die unbefristete Betriebsbewilligung entzogen und bis Mitte 2013 beschränkt – sicher nochmals ein Schub für unseren Grossanlass am Jahrestag von Fukushima beim AKW Mühleberg!
Stündlich machte sich ein Demozug mit Tausenden von Leuten auf den 6,5 km langen Marsch über die alte Holzbrücke bis hinüber zum AKW Mühleberg. Ein pikantes Detail: Im Dorf Mühleberg standen etwa 8 Dorfjugendliche mit einem Proatom-Plastikbanner 'Dumm,dümmer, grün' und Schimpfrufen, angefeuert von einem erregten ältern AKW-Mitarbeiter. Ich versuchte sie ruhig anzusprechen; nur einer liess sich aber auf ein Gespräch ein....
Inzwischen begannen auf der bunten Wiese vor dem AKW vielfältige Aktivitäten: Der Hersteller Enetur präsentierte seine Windturbine, die Firma Jenni eine Solaranlage. Im Kinderzelt wurde gebastelt, gemalt und Spiele angeboten. Daneben gestalteten Teilnehmende vier grosse Bilder zu den erneuerbaren Elementen. Am wwf-Stand konnte man sogenannte 'Sonnenscheine' – Anteilscheine für gemeinsame Solaranlagen – erwerben. Ein grosses Poster von Jugendsolar zeigte auf, wie der Strom vom AKW Mühleberg mit Alternativenergien gedeckt werden könnte. Beim Eingang ragte ein grosser Holzturm für die Medienphotographen in den Himmel. Hinten reihten sich 900 Velos der Velokarawane aus Bern an den Absperrgittern auf. Und natürlich durften auch die diversen Getränke- und (Bio-)Essensstände nicht fehlen – angesichts der frühen Jahreszeit hatten wir auch eine Menge Tische und Bänke bereitgestellt.
Ab 11 00 h begann das Bühnenprogramm mit den MusikerInnen von bâteau ivre, Tinu Heiniger, einer Lesung von Gerhard Meister aus seinem Theaterstück ' Die Leuchten in der Nacht' und der Band von Aernscht Born. Den Auftakt des Redenprogramms machte eine Gruppe von JapanerInnen: Herr Nojima berichtete von Menschen, die 60 km von Fukushima entfernt immer noch mit einer 6-fachen Dosis der erlaubten Caesium-Strahlung leben müssen. Und von einem Biobauer der Region, der sich aus Protest gegen das Versagen der Betreiberfirma Tepco das Leben genommen hat. Immer noch sind 60'000 Menschen evakuiert. In einer Schweigeminute gedachte die Menge der Opfer von Fukushima. Jürg Joss von Fokusantiatom schilderte anschliessend die Mängel und Risiken vom AKW Mühleberg, das gegen eine Überflutung durch den Wohlensee nicht geschützt ist. Auch als es beim Bau 1971 zu einem Brand kam, wurde sich niemand des Risikos bewusst. Die beiden MenschenStrom-Rednerinnen forderten deshalb auf französisch und deutsch den sofortigen Stop von Mühleberg und den tatkräftigen Umstieg auf die Erneuerbaren: Schon jetzt deckt die Wasserkraft fast die Hälfte des Schweizer Strombedarfs. Weitere 25% könnte die Solarenergie beisteuern. Wenn in jedem Dorf eine Biogasanlage erstellt würde, könnte dies zusätzliche 5% decken. Und natürlich sind Stromsparmassnahmen wichtig – allein der Ersatz der Elektroheizungen spart das AKW Mühleberg ein! Das Ausweichen in grosse Kohle- und Gaskraftwerke muss unbedingt vermieden werden! Auch wenn das den Stromkonzernen nicht passt: Die Zukunft liegt in dezentralen Anlagen!
Nach einem gemeinsamen französischen AKW-Lied moderierte Susan Boos ein Stehpodium – ein Versuch, lange Reden zu vermeiden: Sabine von Stockar unterstrich, dass es nun den politischen Willen braucht, um mit voller Kraft die Energiewende einzuleiten. Nationalrat Nordmann betonte, dass dezentrale Projekte der Erneuerbaren viel mehr einheimische Arbeitsplätze schaffen als AKWs; Bedingung ist, dass endlich der Deckel der Kostendeckenden Einspeisevergütung beseitigt wird, sodass die 15'000 Projekte in der Warteschlange endlich realisiert werden können. Allein sie könnten die Altreaktoren von Mühleberg und Beznau I + II ersetzen! Der junge Solarpionier Jonas Rosenmund schilderte, wie das Emmental gezielt den Aufbau von erneuerbarem 'Stromvonhier' vorantreibt, und die Grüne Aline Trede – Initiantin der Motion 'Mühleberg abschalten' drückte ihre Hoffnung aus, dass das AKW bis zur Geburt ihres Kindes in 10 Wochen – sie ist im Moment schwanger – stillgelegt sei.
Es folgte eine kabarettistische Einlage der Birkenmeiers, Musik von Puma Mimi und Tim, und eine kleine symbolische Aktion: Die Entsorgung einer Elektroheizung in einem Abfallcontainer. Eindrücklich waren die Mundartlesung von Pedro Lenz, und die Rapper Greis und Dodo mit ihrer Musik.
Die Sonne schien zwar, aber es wehte ein scharfer Wind. Dies tat aber der fröhlichen Stimmung auf dem Platz keinen Abbruch. Schliesslich machten sich die Tausenden wieder auf den Heimweg, sei es per Shuttlebus nach Bern, sei es zu Fuss ums AKW-Gelände herum und der Aare und Saane entlang bis zurück zum Bahnhof Gümmenen – eine wunderschöne Abendsonne glänzte auf dem Wasser und begleitete die friedlichen Wanderer.
Von den rund 8000 Teilnehmenden bekamen wir von der MenschenStrom-Organisation viel Lob zu hören. Im Vorfeld hatten wir lange diskutiert, ob wir es wagen sollten, so früh im Jahr, und noch dazu an einem so abgelegenen Ort und Abstimmungssonntag diesen Grossanlass durchzuführen. Umgekehrt war uns klar, dass jetzt eine entscheidende Zeit bevorsteht, muss der Bundesrat doch für die Sommersession der Räte seine Botschaft ausarbeiten, wie er den Atomausstieg konkret zu bewerkstelligen gedenkt.
Wie schon für die letzten beiden Menschenströme war es wieder eine enorme Herausforderung, einen solchen Grossanlass auf die Beine zu stellen. 181 Trägerorganisationen mussten gewonnen werden. Freiwillige entwarfen und verteilten in beiden Sprachen über 100'000 Flugblätter und Tausende von Plakaten in der ganzen Schweiz. Routen mussten abgeklärt, Bewilligungen von Polizei, Behörden und der BKW (Platz) eingeholt, in langen Verhandlungen Extrazüge und Shuttlebusse geplant, und über 50 HelferInnen für den Auf- und Abbau und Betreuung der Stände gefunden werden. Am Tag selber waren 62 PeacekeeperInnen und 17 Sanitäter im Einsatz, die mit einem ausgeklügelten Konzept die Demozüge begleiteten und neuralgische Punkte sicherten. Insgesamt leisteten die etwa 30 Freiwilligen des inneren Kreisess in 6 Arbeitsgruppen etwa 3 ½ Arbeitsjahre ehrenamtlicher Vorarbeit! Die Freude über den grossen Zustrom und die farbige und friedliche Stimmung am Anlass selber aber entschädigte uns für alle Mühe!
Ueli Wildberger